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HERRSCHAFTSKRITISCH

 

Herrschaftskritik gilt in liberalen, demokratischen Gesellschaften gemeinhin als obsolet. Manifeste herrschaftliche Strukturen, so heißt es, seien Sache einiger vereinzelter autoritärer Regime in der globalen Peripherie. Demokratien sind davon nicht betroffen. Wir widersprechen dieser These vehement. Herrschaft kann definiert werden als ein gesellschaftliches Verhältnis, in dem Menschen ihre Autonomie, d.h. die Verfügungsgewalt über ihre Zeit, ihren Körper, ihre Arbeitskraft etc., der Gewalt anderer Menschen unterstellen müssen, um ihre Existenz zu sichern. Dieses Verhältnis ist nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall gesellschaftlicher Organisation im Kapitalismus – auch mit liberal-demokratischem Zuschnitt. »Frei« sind wir darin nur in dem Sinne, dass wir (formal) das Recht haben, zu wählen, an wen wir unsere Arbeitskraft verkaufen wollen. Gegenüber einem feudalen Regime mit Leibeigenschaft und Abgabezwang ist das zweifellos ein Fortschritt.

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Was die liberale Freiheitserzählung jedoch unterschlägt, ist, dass wir uns nicht nur beliebig verdingen dürfen, sondern die allermeisten von uns es auch müssen (um zu überleben), und zwar unter massiv ungleichen sozialen Rahmenbedingungen, in andauernder gegenseitiger Konkurrenz, ohne Garantie auf ein längerfristiges Auskommen und vielmals im Widerspruch zu unseren individuellen Bedürfnissen und Neigungen. Das liberale Freiheitsversprechen ist Tarnung und Motor eines Systems vielfältig verschränkter Herrschaftsverhältnisse: Die Besitzlosen leisten Lohnarbeit (so sie überhaupt einen Arbeitsplatz haben), wobei die Migrant*innen unter ihnen vielfach in den untersten Segmenten von Industrie, Dienstleistung und Landwirtschaft schuften müssen und die Frauen, unentgeltlich und zusätzlich zum Job, das überwältigende Gros der gesellschaftlich notwendigen Haus- und Sorgearbeit verrichten. Das ist, grob skizziert, der allgemeine Status Quo kapitalistischer Herrschaft unter neoliberalen Bedingungen - und der Grund, weshalb der Punkt Herrschaftskritisch am Anfang unseres Grundsatzkatalogs steht. Die Widersprüche dieses Systems schlagen sich selbstredend auch in den Strukturen der Uni nieder, in Form von zunehmend prekären Arbeits- und Studienbedingungen, ungleich verteilten sozialen und politischen Rechten, Demokratieabbau, Ökonomisierung von Forschung und Lehre, wachsendem Effizienz- und Leistungsdruck, elitären Männerbünden u.a. Die Liste ließe sich noch endlos fortsetzen. Unsere Grundsätze geben einen Überblick darüber, wo wir die Schwerpunkte gegenwärtiger Herrschaftskritik sehen, und was es nach unserer Ansicht braucht, um herrschaftliche Strukturen an der Universität (und darüber hinaus) kenntlich zu machen und zu überwinden.

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